Der Weg einer verwöhnten Theologin*

*Im Französischen lautet die Überschrift „Itinéraire d’une théologienne gatée“ und spielt damit auf einen Film von Claude Lelouch an („Itinéraire d’un enfant gâté“; 1988), dessen Titel im Deutschen mit „Der Löwe“ reformuliert wurde.

 

Das Licht der Welt erblickte ich im Schatten einer Kathedrale aus rosafarbenem Sandstein, die ihren einzigen Turm aus den Fachwerkbauten der mittelalterlichen Stadt in den zumeist grauen Himmel streckt. Auf elsässischem Boden, von dem man sagt, er sei reich und fest wie seine wahrhaft schroffen und doch weitherzigen Bewohner, vermengen sich Traditionen und Religionen reibungslos. Die Geschichte webte dort eine raue Sprache, die zwischen beiden Ufern des Rheins hin und her schwankt, und erbaute Dörfer mit zwei Kirchen. So vermischte sich auch in meiner Familie ein Ur-Katholizismus (der einzige „Geistliche“ unter meinen Vorfahren war ein Pater, der vor dem Ersten Weltkrieg als Missionar nach Indien ging) mit einem leicht puritanisch eingefärbten Protestantismus. In lutherischer Tradition erzogen, gebe ich gern zu, noch heute nichts davon verleugnen zu wollen. Oder, um es anders auszudrücken, diese Tradition hat sich nach und nach mit dem reformierten Weg verbunden, den ich seit meiner Ankunft in Genf vor über 30 Jahren erfreut beschreite.

Während ich mit grössten Genuss mein Studium der Klassischen Philologie aufnehme, wenden sich gute Freunde der Theologie zu. Von Zeit zu Zeit bin ich bei einigen dieser Kurse zugegen und spüre auf seltsame Weise, dass ich eines Tages ganz darin werde eintauchen müssen. Aber andererseits ist die literarische Bildung mein erster Beruf und wird es auch bleiben. Um der Wohltat einer Analyse willen, dieses ersten hermeneutischen Anlaufs; um des Vergnügens des Übersetzens willen, dieser wunderbaren Entschleierung antiker Texte; oder auch um der Ergriffenheit durch eine poetische Rede willen, wenn man dank der Alchemie der Sprache die Endlosigkeit des Sternenstaubs erreicht.

An diesem Scheideweg meines Lebens trete ich der Bruderschaft des Heiligen Michaels bei, eine kleine lutherisch inspirierte Gemeinschaft, in der ich einige Zeit mit wöchentlichen Treffen, Gebeten, Reflexionsgesprächen und liturgischem Leben verbringe. Ich entdecke die Schönheit der Osternacht, in der die Kraft des Heiligen Geistes weht. Jenseits dieser zweifelsohne sinnstiftenden Erfahrung übernehme ich die Gedanken der sola scriptura, in den sich die Linguistin wohlig hineinschmiegt, der sola gratia, die alle Freiheit erschliesst, und der sola fide, die meine an mich selbst gerichteten Forderungen bestärkt. Ebenso gewinnen die Eigenständigkeit des protestantischen Denkens, seine Strenge und Geradlinigkeit für mich symbolischen Wert. Ich nehme fortan bewusst an einer lebendigen und belebenden Tradition teil.

Daraufhin beginne ich einTheologiestudium in Genf. Zum ersten Mal erlebe ich einen Ort, der immer noch weitreichend durch den Protestantismus geprägt ist. Nordamerika wird dann der zweite sein. Zurück in Strassburg beende ich sowohl mein philologisches als auch mein theologisches Studium. Man schlägt mir daraufhin ein Forschungsvorhaben vor, das meinen Geschmack für die literarische Analyse mit dem Feld der Homiletik verbindet. Das ist der Anfang von fünf Jahren intensiver Arbeit, leidvollen Schreibens und großer Freuden, um schließlich im Februar 1988 zu vernehmen, wie mir der Doktorgrad in Theologie verliehen wird.

Zurück in Europa folgt ein Praktikumsjahr in Mulhouse. Sechs Monate bei der Caritas mit den Armen, den neuen und den anderen; unsäglicher Skandal, der theologisch dennoch einzuholen und zu hinterfragen ist. Sechs Monate bei einem Abgeordneten, bei dem ich noch einmal den Schleier des Glanzes, der Rede, oder gar der Eitelkeit lüfte, um zum Dialog und zum Hinterfragen vordringen zu können. Im Jahre 1987 wird in Genf meine Bewerbung für die Pfarrstelle der Universität und die Leitung des Centre protestant d’Études (CPE) angenommen, woraufhin ich im September desselben Jahres meine neue Stelle antrete.

Diese theologische Reflexion konkretisiert sich in der Fortführung meiner Arbeiten zur Sprache, die das Herzstück meiner Dissertation bildeten – und allgemeiner zu dem Übergang, in den unsere Welt zu diesem Zeitpunkt im Begriff ist einzutreten; er stellt die religiösen Traditionen unumkehrbaren und somit erschreckenden Entscheidungen gegenüber. Daraus entsteht eine umfangreiche Arbeit über meine Theologie des Übergangs, die 2004 bei der Theologischen Fakultät der Universität Bern als Habilitationsschrift eingereicht wird. Sie wird einstimmig angenommen; in diesem deutschsprachigen Umfeld, das gleichzeitig anspruchsvoll und offen ist, findet mein atypischer Werdegang endlich Anklang.

Diese Jahre im Pfarramt sind ebenso von einem starken ökumenischen Engagement geprägt. Regelmässig werde ich von internationalen Organisationen mit Sitz in Genf (Ökumenischer Rat der Kirchen, Lutherischer Weltbund, Konferenz der Europäischen Kirchen…) angefragt. Es geht um Teilnahme an Diskussionsgruppen, um die Vorbereitung von Tagungen, aber auch um den Besuch anderer Kirchen, insbesondere im Rahmen der Dekade der Kirchen in Solidarität mit den Frauen (1987-1997). In diesem Rahmen stelle ich fest, dass die Wahlverwandtschaften an den Grenzen der historischen Konfessionen nicht Halt machen und dass jenseits der Texte und der offiziellen Übereinkünfte der ökumenische Dialog vor allem in der Begegnung mit dem nahen, aber doch so verschiedenen Anderen besteht. Ohne Berührungsängste, zwischen Wesentlichen und Beiläufigen.

Schliesslich sind diese Jahre des Pfarramtes durch die Erfahrung des Verzichtes geprägt. Verzicht auf die universitäre Lehre nach zwanzig Jahren mit unterschiedlichen Lehraufträgen; Verzicht darauf, einen Wandel der kirchlichen Institutionen zeitnah mitzuerleben, sei es zugunsten einer Solidarität mit den Frauen oder den Homosexuellen, zwei Fragen, für die ich mich stark engagiert habe, sei es im Rahmen einer globaleren Reform der kirchlichen Institutionen. Die existentielle Frage, die mich damals umtreibt, dreht sich um den Sinn solchen Verzichtens und um die Art und Weise, wie man damit umgehen kann. Wie lässt sich noch ein Wort des Glaubens formulieren, wenn das, wofür man sich engagiert hat, solcherart in Frage gestellt wird? Welche Gestalt kann für uns das Göttliche noch annehmen, wenn in der Wüste der Anfechtungen alle anthropomorphen Vorstellungen des Göttlichen in weite Ferne rücken und sich auflösen? Der verborgene Gott von Luther? Der Gott der Bundeslade, der im Dazwischen anwesend ist, nicht aber in einer gegenständlichen Wirklichkeit? Der Gott des leeren Grabes am Ostermorgen? Ich musste eine Zeitlang durch echtes Brachland wandern, bevor es mir gelang, erste Antwortversuche zu skizzieren. Fürwahr eine sehr biblische Erfahrung.

Von 2004 bis 2016 leite ich in Genf das internationale Museum der Reformation (MiR). Formell bin zwar ich der Genfer Pfarrerschaft aggregiert; umwillen der Belange eines zuerst privat finanzierten Museums, für das man sich aber in der Zukunft öffentliche Subventionen verspricht, natürlich im Rahmen der für Genf so typischen Laizität, feiere ich, zumindest in Genf, keine Gottesdienste mehr. In diesen Jahren lebe ich meine Spiritualität als einfaches Gemeindeglied, zunächst in einer lebendigen Gemeinschaft, der englischsprachigen lutherischen Gemeinde in Genf, dann in einer persönlicheren Form, indem ich neue Wege suche und über manche Schleichwege wandere. Das Brachland, das ich durchquere, erfordert, mich mancher Lasten zu entledigen und so die Leere zu streifen, ein notwendiger Weg, wenn ich vermeiden will, den Mangel zu stopfen.

Durch diesen unglaublich reichhaltigen Lebensweg geprägt, schreibe ich zu Beginn des Jahres 2018 dem Leiter der Evangelische-Reformierte Kirche des Kantons Waadt. Was dann folgt ist bekannt: die Vertretung einer Pfarrstelle in der Umgebung von Morges ab dem 1. April 2018, einem symbolträchtigen Ostertag und einer wahren Wiedergeburt, und dann die Übernahme einer Pfarrstelle in Prilly-Jouxtens, im Lausanner Westen